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Mein Kampf gegen den Eingriff des Nazismus in die Kirche

Bericht von Paul Jäger

 

 

Es war kurz vor der Machtergreifung der N.S.D.A.P. im Jahre 1933. Ich war Dienststellenleiter des Bahnbetriebswerkes (Lokomotivdienststelle) in Holzwickede (Westfalen), als ich von meinem Büro aus, auf der Straße eine marschierende Jungenkolonne hörte. Sie sang: „Dem Adolf Hitler reichen wir die Hand.“ Ich befragte mich, wer ist Adolf Hitler? Da hörte ich zum ersten Male von dieser Sache, die in München aufgezogen war. Für Politik hatte ich keine Zeit und nie Interesse und gehörte deshalb nie einer Partei an.

 

Nach der Machtübername durch Hitler wurden wir Reichsbahnbeamten (Dienststellenleiter) bald zum vorgesetzten Maschinenamt nach Hagen berufen zur Vereidigung auf die neue Regierung. Ich wusste den Spruch aus der „Heiligen Schrift“: „Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über Euch hat; denn sie ist von Gott eingesetzt.“ Diesen Geist habe ich von meinem Vater übernommen, der auch Reichsbahnbeamter war.

 

Nun dauerte es nicht lange, als die Parteileitung reges Interesse zeigte, uns Dienststellenleiter mit größerem Personalbestand als Mitglieder zu gewinnen. Der Ortsgruppenleiter schickte mir wiederholt einen meiner Vorschlosser mit der Anregung, mich als Mitglied anzumelden. Ich lehnte wiederholt ab mit dem Bemerken, ich wolle nicht als so genannter Zugvogel oder Märzgefallener gelten. Man ließ mich aber nicht in Ruhe, bis ich die Gewissheit hatte, dass ich wohl nicht mehr lange meine Dienststelle leiten würde, wenn ich meine Anmeldung nicht vollzog.

 

Da ich Frau und Kind hatte und ich meinen Beruf liebte, gab ich schließlich nach, sodass meine Mitgliedschaft ab 1.5.1933 datiert. Ich zahlte meine Beiträge und kümmerte mich weiter um nichts.

 

Damals hatte ich gegen alle Korruption und Unehrlichkeit geredet bei Gelegenheiten im Eisenbahnverein und bei meinem Lokomotivpersonal. Ich wurde deshalb zum ersten Vorsitzenden des Eisenbahnvereins gewählt, in deren Kreise ich kurzerhand reine Sache schaffte. Bald darauf wurde ich deshalb von der Kirchengemeinde einstimmig, mit Zustimmung der Parteileitung, zum Kirchmeister gewählt, der die Kirchenkasse zu verwalten hatte und im Kirchenvorstand erster Presbyter war.

 

Es setzte nun, 1934, der Kirchenkampf ein, in dem die Partei eine leitende Stellung einnahm, auch im Kirchenvorstand. Der mutige Pfarrer und prächtige Redner sagte von de Kanzel herunter: „Wenn ich gleich die neue Vorstandsliste bekannt gebe, werden bei einigen der Namen die Herzen erzittern.“ Aufgrund dieser mutig ausgesprochenen Wahrheiten wurde der brave Pastor durch die Partei beseitigt, ohne dass die weitaus anhängliche Gemeinde die Macht hatte, den Pfarrer zu halten. Die große Bekenntnisgemeinde war nun ohne Pfarrer, sodass zunächst auswärtige Presbertane Predigten übernahmen.

 

Es kamen nun die Probepredigten der interessierten neuen Pfarrer für die große und einige Gemeinde. Die Pfarrwahl wurde durch die Partei vergewaltigt, sodass ein Pfarrer gewählt wurde, welchen die Gemeinde nicht haben wollte. Die meisten Wähler wurden gezwungen und wählten aus Angst gegen ihre Überzeugung. Deshalb wurde die Wahl beanstandet, zuerst mündlich durch den Superintendenten von Unna-Camen. Ich sollte die schriftliche Beanstandung der Wahl unterzeichnen. Damit ich mich nicht zu sehr gefährdete und man mich weder auf meiner Dienststelle, noch als Leiter des Kirchenkampfes verlieren wollte, übernahm einer meiner Lokomotivführer, der auch im Kirchenvorstand war, die Unterschrift der Wahlbeanstandung.

 

Die Reichsbahndirektion wurde dann gezwungen durch die Partei, diesen Mann nach Hagen zu versetzten unter Verhängung weiterer Unannehmlichkeiten für den treuen Mann. Der sonst so starke Mann wurde kränklich und hinfällig.

 

Nach Einführung des von der großen Mehrheit der Bekenntnisgemeinde unerwünschten Pfarrers (Deutscher Christ, also Parteipfarrer) wurde die Kanzel wiederholt zu politischen Hetzerein benutzt. So predigte einmal ein auswärtiger Pfarrer, welcher derartig hetzte, dass ich als Kirchmeister den Gottesdienst, mich aus der Presbyterbank erhebend, verließ, um der Gemeinde klar zu machen, was von der Kanzel aus betrieben wurde.

 

Es ging daraufhin ein Beschwerdeschreiben gegen mich los an das protestantische Konsistorium Münster. Auch machte mir die Partei bittere Vorwürfe. Nun wollte die Bekenntnisgemeinde dieser Predigten nicht mehr hören, weshalb der Wunsch laut wurde, nach Unna zur Kirche zu gehen. Ich bestellte dazu 12 Autobusse für je 15-50 Personen. Vom Kirchplatz fuhren wir demonstrierend mit 12 Bussen nach Unna mit rund 500 Personen. Es wurde nachher bekannt, dass in der Holzwickeder Kirche nur 17 Personen am Gottesdienst teilnahmen. In Unna stauten sich die Busse um die Kirche herum. Die große Kirche in Unna wurde fast überfüllt.

 

Da ich feststellte, dass ein Sonderzug billiger war als die Busse, beantragte ich auf eigene Gefahr, bis auf Abbestellung, bei der Reichsbahndirektion Wuppertal für jeden Sonntag ein Kirchensonderzugpaar. Das gab jeden Sonntag in Unna, vom Bahnhof aus zur Kirche ein Menschengewoge, sodass die Straßenpolizei verstärkt wurde.

 

Es dauerte nicht lange, so wurden wir auf unsere Rückkehr von Unna auf dem Bahnsteige in Holzwickede, von auswärtigen Parteileitern fotografiert. Dadurch wurden etliche Bekenntnischristen beängstigt, sodass sie nicht mehr mitfuhren. Es verringerte sich deshalb die Zahl der Mitfahrer von 500 auf stark 300 Personen. Die Anzahl der Kirchgänger in der Holzwickeder Kirche wurde aber nicht entsprechend größer. (23-27 Personen).

 

Ich ließ nun an einem Sonntag nach Rückkehr von Unna den Fotografen durch den Diensthabenden Bahnhofsbeamten in Holzwickede festnehmen, da mir bekannt war, dass kein Unbefugter auf Bahngelände fotografieren darf. Als ich nachher in das Dienstzimmer des Bahnhofes trat, um festzustellen, was aus dem Fotograf geworden war, war derselbe nicht mehr zu sehen. Der Bahnbeamte sagte, er wisse nicht, wo der Mann geblieben sei. Er müsse mit seinem Apparat aus der Hintertür geflüchtet sein.

 

So fuhren die Kirchensonderzüge noch bis nach meiner Versetzung am 12.6.1935 nach Letmathe und über diese Zeit hinaus.

 

Noch in Holzwickede erhielt ich eines Tages eine schriftliche Aufforderung vom Ortsgruppeleiter, mit zwei weitern Männern des Kirchenvorstandes zu einer Rücksprache im hinteren Zimmer des Ratskellers zu erscheinen. Dieser erschien ebenfalls mit zwei Männern des Parteivorstandes und erklärte, er sei wegen des Kirchenstreites in Holzwickede nach Bochum zum Gauleiter berufen worden. Der habe ihn in einer dreistündigen scharfen Rede verantwortlich für schnellste Ruhe in Holzwickede gemacht und habe erklärt, es würde schon in der englischen und USA Presse veröffentlicht, dass in Deutschland die Bekenntnisgemeinden in Sonderzügen nach Nachbarstädten zur Kirche führen, weil ihnen die eigen Kirche verekelt und gesperrt wurde. Der Ortsgruppenleiter forderte mich auf, die Sonderzüge abzubestellen. Ich erwiderte, die Masse der Gemeinde wolle nur einen Bekenntnispfarrer hören. Wenn er es zuließe, dass neben dem Deutsch-Christlichen Pfarrer an den Sonntagen zu anderer Stunde ein Bekenntnispfarrer predigen dürfe, könnten die Sonderzüge abbestellt werden. Wenn er dies nicht wolle oder könne, solle er sich an das Konsistorium in Münster wenden. Es wurde nicht aus der Sache und die Kirchensonderzüge fuhren weiter.

 

Nach einiger Zeit forderte mich die Ortsgruppe auf, mein Amt als Kirchmeister niederzulegen. Die Kirchenbehörde und ich selbst sahen keine Veranlassung dieses zu tun, da ich mir nicht unwürdiges zu Schulden hatte kommen lassen und ich einstimmig zum Kirchmeister gewählt worden war.

 

Dann wurde ich zum Parteiehrengericht nach Unna-Camen geladen, weil ich einen Ringkampf mit einem Metzgermeister und anderen sportliche Tätigkeiten vorgenommen hatte, zum Beispiel: die Flanke über ein Billard in einem Gastzimmer.

 

Bald darauf erschien auf meiner Dienststelle ein Reichsbahn-Direktor, der mit einem Antrag der Parteileitung kam, mich von Holzwickede zu versetzen, weil ich Unfrieden in der Kirche gestiftet hätte. Hierzu wurde ich von dem Herrn schriftlich vernommen. Die Reichsbahn-Direktion lehnte meine Versetzung vorläufig ab, weil ich meine Dienststelle ohne Tadel führte.

 

Ich wurde nun wiedererholt mündlich von Mitgliedern der Parteileitung mit dem KZ Lager bedroht. Dann kam der Vorschlosser an einem Sonntag in Meine Wohnung, dessen sich der Ortsgruppenleiter als Boten bedient hatte, zwecks meiner Anmeldung in die Partei. Er warnte mich, ich solle die Tätigkeit in der Kirche niederlegen sonst sei ich ein toter Mann. Ich erklärte, ich sei als Kirchmeister vereidigt resp. habe ich als solcher meine Treu der bekennenden Kirche im Gotteshause gelobt und täte meine Pflicht weiter nach Vorschrift und Überzeugung. Der Mann verließ weinend meine Wohnung.

 

Dann erhielt ich plötzlich telegrafisch meine Versetzung zum 12.6.1935 nach Letmathe aus dienstlichen Gründen. Ich glaubte, die Reichsbahn-Direktion Wuppertal wäre dem Drucke der Partei nachgekommen: Nachträglich wurde aber gesagt, eine Abordnung meiner Belegschaft sei zur Direktion Wuppertal gefahren und hätte um meine Versetzung gebeten, um so mein Leben zu retten, damit sie mich später wieder als ihren Dienstellenleiter wieder bekommen könnten.

 

Einige Monate nach Übernahme meiner neuen Dienststelle in Letmathe wurde ich zu einem Sonntage mit meiner Frau zum Gottesdienst nach Holzwickede eingeladen. Man schien einen Weg gefunden zu haben, dass die Bekenntnisgemeinde auch die Holzwickeder Kirche benutzen konnte, wodurch die Kirchensonderzüge sich erübrigten. Dieser wurde deshalb auch abbestellt. Als ich nun mit meiner Frau nach Holzwickede kam, hatte sich die Bekenntnisgemeinde in Massen vor der Kirchentüre gestaut.

 

Die Türen waren aber verschlossen und von innen durch Querhölzer, Hackenstiele und Schaufeln zugeklemmt. An der stand der Parteipfarrer und versperrte mit seinem Körper die Türe, indem er sich an der Türe festhielt. Als die Zeit zum angesagten Gottesdienst herangekommen war, wurde der Pfarrer von der nachdrängenden Menge abgedrückt. Ein Haustürschlüssel eines Mannes passte und die Tür wurde mit Gewalt aufgerissen, sodass die Querhölzer und Schüppenstiele zerbrechen. Die Menge strömte in die Kirche und der junge Bekenntnispfarrer konnte, im Gesicht bleich, die Kanzel betreten. Nach der Predigt erklang die Orgel in dem Liede: „Nun danket alle Gott.“ Die die Kirche verlassende Gemeinde blieb stehen und sang die 3 Strophen mit Andacht und Freude. (Ein S.S. Mann mit Kleinkaliber-Büchse, der vor dem Gottesdienst im Rücken der Menge stand, wurde durch die Polizei vom Platze gewiesen.)

 

An Sonntagen darauf war die Kirche der Benkenntnischristen wieder versperrt und die Gemeinde wurde durch Drohungen geängstigt bis nach einigen Wochen, auf Grund meiner früheren schriftlichen Verhandlungen mit der Abteilung für den kulturellen Frieden-Berlin eine Regelung zustande kam. Die Bekenntnisgemeinde durfte die Kirche von 9-10 Uhr, die Deutschen Christen von 10.30-11.30 Uhr benutzen.

 

Von Letmathe aus musste ich nochmals zum Partei-Ehrengericht Unna-Camen zur Vernehmung.

 

Wie ich in Holzwickede erfuhr, wurden meine Besuche nach dort vom Ortsgruppenleiter scharf überwacht. Nach einem meiner Besuche in Holzwickede, hatte der Ortsgruppenleiter sich befragt, was ich dort noch wolle und betreibe. Darauf hatte mein Freund ihm geantwortet, er habe mich zum Schlachtfest eingeladen. Genau nach Jahresfrist erhielt ich in Letmathe ein kurzes Schreiben vom Partei Ehrengericht Unna-Camen, welches lautete: „Das Verfahren gegen Sie habe ich eingestellt.“ Unterschrift. Ja, ich war ja auch mundtot gehalten. Meine Nerven waren so herunter gekommen, dass ich vollauf mit meinen dienstlichen Pflichten belastet war. Bemerke noch, dass meine Parteiakten die nötigen Vermerke aufweisen müssten, die das deutliche Misstrauen der Ortsgruppenleitungen in Letmathe und auch nach meiner Versetzung in den Ruhestand infolge meines Augenleidens, hier in Bad Wildungen erklären ließen.

 

Trotz meines Invalidenzustandes kommandierte mich de hiesige Ortsgruppenleiter noch im letzten Jahre zum Blockleiter für einen erkrankten und später verstorbenen Blockleiter, sodass ein hiesiger Freund zu mir sagen konnte: „Zuerst ekelt man Sie sozusagen aus der Partei hinaus und jetzt, wo man sieht, dass die ganze Sache schief geht, kommandiert man Sie zum Blockleiter.“ Meine Erklärungen, betreffs meiner vollen Invalidisierung – schwere Augenoperation – beiderseits grüner Star- wurden nicht beantwortet.

 

In Letmathe setzte mein Augenleiden ein, kurz vor dem ich zu einer Parteischulung entsandt werden sollte. Deshalb hatte sich meine Tätigkeit in der Partei nur auf Einsammeln der Beiträge beschränkt. Diese Schulungskurse hielt ich für eine geistige Einsperrung und Vergiftung des deutschen Chartachters. Die obige Schilderung meines Verhaltens im damaligen Kirchenkampf dürfte hinlänglich beweisen, dass ich den Eingriff der Partei in die Kirche als einen der schwersten Fehler, in für mich nicht ungefährlicher Weise, bekämpft habe. Sinngemäß würde ich in der Judenfrage gehandelt haben, wenn mich das Schicksal tätig hineingezwungen hätte. Ich handelte aber als Beamter nicht ohne gefährlichen Kampf – nach dem Motto: „Das Brot ich esse, das Lied ich singe.“ Die Wahrheit der obigen Ausführungen würde die Bekenntnisgemeinde Holzwickede ohne Bedenken bestätigen können.

 

Gezeichnet Paul Jaeger, techn. Reichsbahn Insp. a.D.

Bad Wildungen 05.Nobvember 1945